Undercover-Reporterin Michelle aus dem Team Wallraff
„Ohne vorgefertigte Meinung in den Undercover-Einsatz“
Wie motiviert Günter Wallraff (82) junge Journalist*innen? Michelle ist seit zwei Jahren als Reporterin für das RTL-Format Team Wallraff unterwegs. Hier erzählt sie von ihrer Zusammenarbeit mit einer Koryphäe des investigativen Journalismus, über den Menschen Günter Wallraff und dessen Strategie an der Tischtennisplatte.
Aufgezeichnet von Filip Schwen
Als ich Günter das erste Mal getroffen habe, war ich sehr gespannt. Aufgrund dieser enormen Bedeutung, die er für den deutschen Journalismus hat. Und dann kommt da ein freundlicher Mann auf seinem Rennrad angeradelt und fragt mich: Mensch, was sind die Themen, die dich interessieren? Wie kann ich dich dabei unterstützen? Bodenständig und hilfsbereit, das hat mir sofort imponiert.
Seitdem ich Journalistin bin, steht für mich fest, dass ich gerne investigativ arbeiten möchte. Ich hatte bereits mehrere 90‑minütige, investigative Dokumentationen realisiert, als ich Anfang 2023 die Chance bekam, Reporterin bei Team Wallraff zu werden. Da habe ich direkt zugeschlagen. Schließlich steht Günter in Deutschland exemplarisch für investigativen Journalismus und das Team Wallraff für das Aufdecken von systemischen Missständen.
Günter hat lange dafür gekämpft, dass die Art von investigativem Journalismus, wie wir sie insbesondere bei Team Wallraff umsetzen, in Deutschland möglich ist. Er war es, der durch seine Recherchen die Rechtsgrundlage dafür geschaffen hat, auch mit versteckter Kamera und anderen Identitäten zu arbeiten, wenn die dadurch aufgedeckten Missstände im öffentlichen Interesse sind.
Mit Günter Wallraff zusammenzuarbeiten, ist für mich deswegen bis heute etwas Besonderes.
Er ist ein Mensch, der immer genau hinschaut, der kritisch nachfragt und einen besonderen Blick für die Herausforderungen anderer hat. Insbesondere für diejenigen, denen es schlechter geht, die in schwächeren gesellschaftlichen Positionen sind. Das gilt für ihn privat wie beruflich.
Im Team Wallraff sind wir aktuell um die zehn Leute. Mein Alltag als Reporterin und Autorin ist spannend, weil er sehr abwechslungsreich ist. Ich recherchiere am Schreibtisch und undercover, führe Interviews und schneide am Ende auch mit an der Sendung.
Zu Beginn einer Recherche brainstormen wir gemeinsam. Oft kommt auch Input von außen, von Zuschauern oder von Informanten und Whistleblowern, die sich bei uns melden. Manchmal recherchieren wir auch vollkommen offen, wenn wir an einer Stelle einen Missstand vermuten. Und natürlich hat Günter bis heute ein prall gefülltes Postfach, sein Telefon klingelt ständig. Bei ihm melden sich viele Menschen, sie vertrauen ihm.
Dann beginnt die intensive und lange Recherchephase. Wir beschäftigen uns nie nur ein paar Wochen mit einem Thema, sondern mindestens Monate, manchmal sogar über Jahre.
Wir betreiben Hintergrundrecherche, sprechen mit Informanten und Experten, wir verschaffen uns ein umfassendes Bild bevor wir undercover gehen. Denn so einen Einsatz muss man intensiv planen und vorbereiten, um an die richtigen Stellen zu gelangen. Wichtig ist, dass wir Reporter*innen trotz aller Vorrecherche unvoreingenommen bleiben. Günter sagt immer: Geh gut informiert in einen Undercover-Einsatz, aber niemals mit einer vorgefertigten Meinung. Denn das, was man finde, sei meistens anders als vorher angenommen. Manchmal schlimmer, manchmal weniger schlimm. Das deckt sich auch mit meinen Erfahrungen.
Obwohl ich häufig verdeckt recherchiere, schlafe ich nie gut in der Nacht vor einem Undercover-Einsatz. Denn natürlich schwingt auch immer die Sorge mit, aufzufliegen. Außerdem bin ich als Undercover-Reporterin einer ständigen Doppelbelastung ausgesetzt
In meinem ersten Team Wallraff-Einsatz recherchierte ich zu Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern und war mehr als einen Monat undercover in Krankenhäusern unterwegs. Während eines Undercover-Einsatzes bin ich zum einen Arbeitnehmerin, habe einen Job und Verpflichtungen. Ich werde Zeuge von schwierigen, teilweise sogar rechtswidrigen Arbeitsbedingungen. Gleichzeitig bin ich aber auch Journalistin, möchte etwas herausfinden, Belege sammeln, viele Fragen stellen, ohne dass die Kollegen und Vorgesetzten misstrauisch werden. Ich erlebe immer wieder Situationen, in denen mir das Herz in die Hose rutscht. Das kann total banal sein. Jemand spricht mich an und sagt: „Hey, du kommst mir so bekannt vor. Woher kennen wir uns?“ Ich habe es auch schon erlebt, dass meine ‚neuen Kollegen‘ plötzlich von Team Wallraff erzählen und ich denke: Oh Gott, warum erzählen die mir das jetzt? Haben die etwa Verdacht geschöpft?
Diese Doppelfunktion ist herausfordernd, hat aber einen Vorteil, den andere Recherchetechniken nicht haben: Wir erleben häufig die Missstände, über die wir berichten. Das macht die Probleme nicht nur für mich greifbarer, sondern bringt sie auch den Zuschauern näher, die durch die versteckte Kamera dabei sind.
In solchen Situationen ist es ein gutes Gefühl, dass Günter uns mit seiner jahrzehntelangen Undercover-Erfahrung zur Seite steht. Am Ende des Tages bin ich in der Undercover-Situation auf mich allein gestellt, aber es ist wichtig, sich immer wieder auszutauschen, damit man ein Korrektiv von außen hat. Als Reporter versinkt man sonst, das merke ich selbst bei mir auch, irgendwann sehr tief in diese Rolle, die man annimmt. Und da profitieren wir alle enorm, wenn Günter seine Erlebnisse aus all den Jahren mit uns teilt.
Was mich immer wieder fasziniert: Abseits seines Erfahrungsschatzes merkt man Günter nicht an, dass er mit 82 Jahren mehr als doppelt so alt ist wie die meisten von uns. Bis heute ist er neuen Dingen gegenüber aufgeschlossen, ist immer neugierig. Ein Beispiel: Günter ist ein Garant für einen guten Social-Media-Auftritt und hat schon richtig erfolgreiche ‚TikToks‘ gemacht. Das hat er mir definitiv voraus.
Bis heute kommt Günter immer mit dem Fahrrad zum Dreh, nimmt nie das Auto oder Taxi. Und trotzdem hat er nach einem anstrengenden Interview noch Energie dafür übrig, in einer Drehpause noch mal Liegestütze einzulegen.
Und beim Tischtennis, da muss man sich wirklich in Acht nehmen. Es ist klar, dass sich mein Kameramann nach einem Dreh noch auf eine Partie einstellen muss, die Günter fast immer gewinnt. Er hat diesen total abgewrackten Schläger, den guckt man sich an, und denkt: Das kann ja gar nichts werden.
Aber Günter ist ein leidenschaftlicher Tischtennisspieler. Man sollte nicht den Fehler machen, ihn zu unterschätzen. Seine Strategie: Er lässt den Angreifer kommen, spielt defensiv. Und wenn er dann merkt, die Leute schwächeln, dann schlägt er zu. So handhabe er es auch bei seinen Recherchen, sagt er. Und das, was er bewirkt hat, gibt ihm recht.
Günter hat ein besonderes Talent dafür, blitzschnell das Wesentliche, den wahren Kern eines Problems, zu erfassen. Und er scheut sich nicht, für seine Werte einzustehen.
Ich erinnere mich an eine Situation, als wir über die Arbeitsbedingungen bei ‚Burger King‘ berichtet haben. Da hat ‚Burger King‘ einen Gegenwerbespot gelauncht und dafür vor der RTL-Zentrale in Köln gratis Burger verteilen lassen und das dann heimlich gefilmt. Günter und ich saßen gerade beim Vertonen. Und als er von der Aktion gehört hat, war Günter sofort auf den Beinen, wollte die Beteiligten konfrontieren und deutlich machen, dass unsere Berichterstattung keine Farce ist, die man veralbern kann. Aber als Günter dann nach draußen gestürmt kam, hatten die ‚Burger-King‘-Leute – wahrscheinlich zu ihrem Glück – schon die Flucht ergriffen.
Man kann mit Günter hervorragend diskutieren. Das ist vermutlich eine Leidenschaft von Investigativjournalisten, und so diskutieren wir auch im Team Wallraff sehr, sehr viel, was wichtig ist, um sich kritisch mit einem Thema auseinanderzusetzen.
Günter gelingt es, Menschen einfühlsam an die Hand zu nehmen, sie zu ermutigen, mit Problemen an die Öffentlichkeit zu treten. Das beeindruckt mich jedes Mal aufs Neue. Denn viele Informanten, die zu uns kommen, haben Sorge um ihren Job, fürchten Konsequenzen, wenn ihre Identität bekannt wird. Es kostet viel Mut zu sagen: Ich spreche mit einem Reporter über einen Missstand, auch wenn mich das im Zweifel meinen Arbeitsplatz kosten kann.
Für unseren Job ist es wichtig, dass es Menschen gibt, die bereit sind, etwas zu riskieren. Sowohl Betroffene, die sich entschließen, als Whistleblower und Informanten zu fungieren, als auch Journalisten, die sich dieser Themen annehmen und darüber berichten, auch wenn es mit Herausforderungen verbunden ist und viel Gegenwind bedeuten kann. Günter vertritt die Haltung: Niemals sagen, dass es nichts mehr gibt, was wir tun können und deshalb alles so bleiben muss, wie es ist. In einer Demokratie könne man immer viel mehr machen und verändern, als es im ersten Moment möglich erscheine. Ich finde das eine ermutigende und bestärkende Einstellung, die ich mir gerne immer wieder in Erinnerung rufe.