20 Jahre Otto Brenner Preis

Kontrapunkt zum neoliberalen Zeitgeist

Der Otto Brenner Preis wurde im November 2024 zum 20. Mal verliehen. Dabei sollte die Auszeichnung bei der Premiere 2005 eigentlich eine einmalige Sache bleiben. Über die Gründungsgeschichte eines der renommiertesten deutschen Journalismuspreise.

Von Filip Schwen

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Es war im April 2004, als sich der Verwaltungsrat der Otto Brenner Stiftung (OBS) erstmals mit der Idee befasste, einen Journalismuspreis ins Leben zu rufen. Fast genau ein Jahr zuvor hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) ein umfangreiches Reformkonzept verkündet, dessen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die Sozialpolitik enorm sein sollten. Die Gewerkschaften liefen Sturm, sahen sie doch mit der Agenda 2010 vor allem einen erheblichen Abbau von Sozialleistungen kommen.

Mit ihrer Opposition gegen die geplanten Maßnahmen zogen die Gewerkschaften wiederum den Unmut der Arbeitgeberverbände und großer Teile der Politik auf sich, die in der Agenda 2010 einen notwendigen Ausweg aus der konjunkturellen Krise sahen. Jürgen Peters, der damalige Vorsitzende der IG Metall und Verwaltungsratsvorsitzende der OBS, beklagte eine zunehmend gewerkschaftsfeindliche Stimmung, insbesondere unter deutschen Journalist*innen, die sich seiner Auffassung nach seit der Jahrtausendwende in weiten Teilen dem Neoliberalismus zugewandt hatten.

Dem wollte Peters einen Kontrapunkt entgegensetzen. So entstand die Idee, die OBS als Wissenschaftsstiftung der IG Metall einen Preis für kritischen Journalismus ausloben zu lassen. „Die journalistische Unabhängigkeit und ein unbefangener Umgang mit sozial- und wirtschaftspolitischen Themen ist [sic!] gefährdet. Der über die Redaktionen verhängte Sparzwang führt immer öfter dazu, auf eigene Recherche zu verzichten, und stattdessen nimmt der Machtzuwachs von PR-Agenturen zu“, heißt es 2005 in einer ersten Projektbeschreibung.

Im selben Jahr wurde der Otto Brenner Preis erstmals verliehen. Der erste Preis ging bei der Premiere an Marcus Rohwetter, Wirtschaftsredakteur bei der ZEIT, für seinen Beitrag Ihr Wort wird Gesetz, der die Rolle internationaler Anwaltskanzleien im Lobbyismus und bei der Entstehung neuer Gesetze beschrieb.

„Zu Beginn war der Preis nicht unbedingt auf Kontinuität ausgelegt“, erinnert sich Jupp Legrand, von 2008 bis Ende 2024 Geschäftsführer der OBS. „In den 1990er-Jahren hat die Stiftung verschiedene Preise für andere Aktivitäten ausgelobt, das Thema hat jedes Jahr gewechselt.“ An dieses Konzept habe man damals anknüpfen wollen.

Über 500 Bewerbungen pro Jahr

Doch es blieb nicht bei der einmaligen Verleihung. „Die Resonanz war im ersten Jahr mit über 300 Bewerbungen so groß, dass man gesagt hat, man will weitermachen“, so Legrand. Inzwischen erreichen die OBS jedes Jahr zwischen 500 und 600 Bewerbungen. Binnen weniger Jahre entwickelte sich der Otto Brenner Preis zu einer der bedeutendsten Auszeichnungen der journalistischen Profession in der Bundesrepublik. „Das, was für andere die höchste Stufe des Bundesverdienstkreuzes ist, ist für mich dieser Preis hier“, sagte Günter Wallraff, der als Deutschlands wohl bekanntester Investigativjournalist jüngst den Otto Brenner Preis für sein Lebenswerk entgegennahm, in seiner Dankesrede.

Dabei hat der Brenner-Preis erhebliche Konkurrenz. Inzwischen gibt es in Deutschland so viele Journalismuspreise, dass sich mit journalistenpreise.de eine Internetseite eigens der Aufgabe widmet, eine Übersicht zu bieten. Mehr als 500 Auszeichnungen sind dort gelistet.

Wie also ist es dem Otto Brenner Preis, der 2024 sein 20-jähriges Bestehen feiern konnte, gelungen, ein solches Renommee zu erreichen? Jupp Legrand sieht einen wesentlichen Grund in der Unabhängigkeit der Preisstifterin. „Hinter dem Otto Brenner Preis steht kein Verlag, kein Medienhaus, kein großer Akteur der Medienwelt“, sagt er, „sondern eine Wissenschaftsstiftung“. Dadurch sei die Jury vollkommen frei bei der Vergabe. „Sie kommt nicht in die Situation zu sagen: Weil die ZEIT das im letzten Jahr gewonnen hat, muss dieses Jahr der SPIEGEL den Preis bekommen. Solche Rücksichten müssen nicht genommen werden.“

Ein zweiter Faktor, der maßgeblich zum Renommee des Preises beigetragen habe, seien die Juror*innen, von denen viele dem Otto Brenner Preis über Jahre treu geblieben sind. „Die hohe Kontinuität der Jury ist ein ganz wichtiges Kriterium“, sagt Legrand. Mit Volker Lilienthal, Professor für Qualitätsjournalismus an der Universität Hamburg, Heribert Prantl, Kolumnist bei der Süddeutschen Zeitung und Harald Schumann, Mitgründer des transnationalen Recherchenetzwerks Investigate Europe sind drei Juroren der ersten Stunde noch heute dabei.

In den vergangenen Jahren gehörten einige der namhaftesten Journalistinnen und Journalisten der Bundesrepublik der Brenner-Jury an, darunter die langjährige Chefredakteurin des WDR-Fernsehens, Sonia Seymour Mikich, der SWR-Chefreporter Thomas Leif und die taz-Kolumnistin Bettina Gaus. Ihm sei es bei der Auswahl der Juror*innen immer darum gegangen, eine möglichst große Bandbreite an Expertise abzubilden, sagt Legrand. „Diejenigen, die da arbeiten, stehen für Wissenschaft, stehen für Hörfunk, stehen für Fernsehen, stehen für Printmedien.“

Das unverzichtbare Gespür einer professionellen Jury

Die Jury habe ein Gespür für Talente und Entwicklungen in der Branche bewiesen, meint der langjährige OBS-Geschäftsführer. „In den letzten Jahren wurden immer wieder Berichte, Reportagen und andere Stücke ausgezeichnet, die eine gewisse gesellschaftliche Wucht entfaltet haben. Aber die Jury hat vor allen Dingen immer auch schon früh große Talente im Journalismus entdeckt, entweder, indem sie ihnen ein Recherchestipendium gegeben hat, oder sie mit dem Newcomer-Preis ausgezeichnet hat“, hebt er nicht ohne Stolz hervor. Als Beispiele nennt er Daniel Drepper, den heutigen Leiter des Rechercheverbunds von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung, der 2011 Stipendiat des Otto Brenner Preises war, oder die mehrfach ausgezeichnete ZDF-Auslandskorrespondentin Golineh Atai, die das Recherchestipendium bei der Premiere 2005 erhielt.

Ursprünglich als Auszeichnung für Journalist*innen gedacht, die sich insbesondere kritisch mit wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Themen auseinandersetzen, hat sich die Jury des Brenner-Preises immer frei gefühlt, auch Beiträge über Themen auszuzeichnen, die der Arbeitswelt fern sind. „Auch wenn der oder die Vorsitzende der IG Metall qua Amt Mitglied der Jury ist, gibt es nie eine Diskussion darüber, dass die Preisträger bestimmte Herzensthemen der Gewerkschaften bearbeiten müssen“, sagt Legrand. Entscheidend seien die journalistische Qualität und die Art und Weise, wie das Thema dargestellt werde.

Die OBS verstehe den Otto Brenner Preis als Auszeichnung für kritischen Journalismus aller Art. „Kritischer Journalismus ist unabhängig, lebt durch die Recherche, ist konfliktbereit und scheut sich nicht, gegen den Mainstream zu arbeiten“, sagt Legrand.

Bereits seit der Premiere 2005 wird der Medienprojektpreis, mit Ausnahme der Jahre 2006 und 2007, an solche Beiträge und Autor*innenteams verliehen, die sich durch eine innovative Darstellungsweise, eine besondere Aufbereitung oder neuartige journalistische Recherche- und Arbeitsformen von gewöhnlichem Journalismus unterscheiden, darunter journalistische Start-ups und Recherchekollektive, aber auch gemeinnützig organisierte Publikationen. Ein Beispiel ist das Dortmunder Projekt Nordstadt-Blogger, das den Medienprojektpreis im Jahr 2023 erhielt und dessen Team sich ehrenamtlich der Lokalberichterstattung sowie der antifaschistischen Aufklärung widmet. „Mit dem Medienprojektpreis besteht die Möglichkeit, auf neue Entwicklungen in der Profession einzugehen“, sagt Legrand.

Umbrüche in der Medienwelt fordern auch den Brenner-Preis

Die Medienlandschaft habe sich seit 2005 massiv verändert, analysiert der frühere OBS-Geschäftsführer. „Die Medienwelt des Jahres 2003 oder 2004 ist nicht zu vergleichen mit der Medienwelt des Jahres 2024.“ Die Diagnose einer neoliberalen Dominanz etwa würde Legrand der journalistischen Profession heute nicht mehr stellen.

Ein wesentlicher Faktor für die grundlegenden Veränderungen sei die rasante Etablierung der Sozialen Medien gewesen. „Es gibt heute wesentlich mehr Akteure, die präsent sind in den Medien.“ Ob das nun gut oder schlecht sei, darüber lasse sich streiten. „Auf der einen Seite hat der Journalismus an Relevanz zum Teil verloren. Die Gatekeeperfunktion, die man dem Journalismus immer zugeschrieben hat, die hat sich durch die Sozialen Medien dramatisch verändert.“ Heute sei es so einfach und kostengünstig wie noch nie, über soziale Netzwerke, Podcasts oder Blogs Informationen zu verbreiten.

Die Kehrseite seien die Verbreitung von Desinformation und Propaganda und damit einhergehend ein zunehmendes Misstrauen gegenüber etablierten, professionell arbeitenden Medien. In zweifelhaften Publikationen, die von sehr konservativen, radikalen bis extremen Akteur*innen gesteuert würden und die gegen die angeblichen „Mainstream-Medien“ und die „Lügenpresse“ agitierten, sieht Legrand aktuell die weitaus größte Bedrohung für die Pressefreiheit.

In diesem Zusammenhang mag überraschen, dass der ehemalige OBS-Geschäftsführer den Journalismus alles in allem in einem guten Zustand sieht. „Ich glaube sogar, dass die Situation für kritischen Journalismus heute besser ist als zu der Zeit, als der Preis entstanden ist, weil es wesentlich mehr Menschen gibt, die sich dem kritischen Journalismus oder dem Recherchejournalismus verschrieben haben“, sagt Legrand. Jedes große Verlagshaus, jede große Zeitung, jeder große Sender unterhalte heute Rechercheteams. „Beispielsweise mit Correctiv sind auch ganz neue Pflanzen entstanden, die jetzt blühen, die sich dann sehr auf kritische Analyse, kritische Beiträge konzentrieren und bei denen viele junge Leute mitarbeiten.“

Welche Rolle spielen aber Journalismuspreise wie der Otto Brenner Preis bei den Veränderungsprozessen in der Medienlandschaft? „Man erreicht eine gewisse Aufmerksamkeit, man kann mit einer Auszeichnung teilweise Themen setzen“, sagt Legrand. Manchen Preisträger*innen habe sie auch geholfen, ihr Standing innerhalb der Redaktion zu verbessern. „Ich glaube aber nicht, dass man über Journalistenpreise den Journalismus oder die Medienlandschaft groß verändern kann“, stellt er nüchtern fest.

Ansporn vor allem für junge Journalist*innen

Das sei auch nicht der Sinn des Otto Brenner Preises. Sein Anliegen sei es, herausragende journalistische Leistungen zu würdigen, und damit ein Ansporn gerade auch für junge Journalist*innen zu sein. Legrands Wunsch für die Zukunft: „Dass es auch künftig so ist, dass der Otto Brenner Preis eine journalistische Biografie schmückt.“

Um das zu erreichen, müsse sich der Preis selbst stetig weiterentwickeln, ist Legrand überzeugt. „Immer vor dem Hintergrund, dass die Medienwelt ja nicht stillsteht.“ Gerade was die Würdigung neuer Medienformate anbelangt, sieht der ehemalige OBS-Geschäftsführer noch Nachholbedarf.

Außerdem würde Legrand die Jury gern noch vielfältiger aufgestellt sehen. „Beim Geschlechterverhältnis ist der Preis mit einem Verhältnis von vier Frauen zu drei Männern vorne mit dabei, aber es gibt zum Beispiel kein Jurymitglied mit Migrationshintergrund“, sagt er. Es müsse außerdem ein Ziel sein, auch jüngere Personen als Juror*innen zu gewinnen. „Das alles wird der Preis in den nächsten Jahren mitberücksichtigen müssen, wenn er die Stellung halten will, die er heute hat, nämlich einer der anerkannten Journalistenpreise der Republik zu sein.“

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