20 Jahre Otto Brenner Preis

Experte Wesam Amer:

„Palästinensische Journalisten leisten Außergewöhnliches“

Dr. Wesam Amer wurde 2020 Dekan der Fakultät für Kommunikation und Sprachen an der Universität Gaza. Nachdem er jahrelang in den USA und Deutschland geforscht sowie in Hamburg promoviert hatte, ließ der palästinensische Medienwissenschaftler sich wieder in seinem Heimatland nieder – bis er im November 2023 mit seiner Familie wegen der kriegerischen Auseinandersetzungen im Gazastreifen fliehen musste. Nach einem kurzen Aufenthalt in Hamburg lebt er nun im Vereinigten Königreich, genauer gesagt in Cambridge. Dort führt er seine Forschung fort, bei der er auch die Berichterstattung über Gaza im Auge behält. Im Gespräch würdigt er The Gaza Project, das mit demMedienprojektpreis ausgezeichnet wurde, erläutert die gefährlichen Arbeitsbedingungen von Journalist*innen in Gaza und setzt sich kritisch mit dem Agieren des israelischen Militärs auseinander.

Die Fragen stellten Cosima Eiwan und Maira Mellinghausen Anfang Februar 2025.
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Das Interview wurde auf Englisch geführt.

Dr. Amer, was ist Ihr Eindruck von „The Gaza Project“?

Ich bin sehr beeindruckt, es ist wirklich fantastische Arbeit. Es macht mich froh, die Beweise zu den Übergriffen des israelischen Militärs auf palästinensische Journalisten und Medienorganisationen in Gaza zu sehen. Die Veröffentlichungen aus diesem Projekt zeigen nun auch dem deutschen und österreichischen Publikum eine andere Seite der Situation in Gaza. Es ist sehr wichtig, dass die Menschen über die Herausforderungen und Bedrohungen aufgeklärt werden, unter denen palästinensische Journalisten in Gaza während des Kriegs, aber auch davor, gearbeitet haben und noch arbeiten. Insbesondere die Tatsache, dass mit Journalisten vor Ort gesprochen wurde, spricht für eine gute Arbeit.

Inwiefern unterscheidet sich das Gaza Project von anderer Berichterstattung zum Gaza-Krieg?

Das Projekt ist eine wichtige alternative Ressource für diejenigen, die an der allgemeinen Situation in Gaza, und vor allem an der von den Journalisten dort, interessiert sind. Insbesondere für deutsche Medien ist die Zusammenarbeit mit arabischen Medien und Medienschaffenden besonders. Wir sehen häufig, dass arabischen Quellen wenig bis keine Aufmerksamkeit gegeben wird – und wenn, dann nur Al Jazeera English. Dabei ermöglicht beispielsweise Al Jazeera Arabic viel mehr Einblicke nach Gaza. Es braucht wirklich außergewöhnliche journalistische Arbeit, damit das westliche Publikum eine vergleichbare Perspektive auf Gaza erhält. Und das hat The Gaza Project geschafft.

Was sagen Sie allgemein zu den Erkenntnissen der Recherche? Waren Sie sich der gezielten Angriffe auf palästinensische Journalist*innen bewusst?

Für uns in Palästina sind diese Erkenntnisse – dass Israel palästinensische Journalisten oder palästinensische Intellektuelle ins Visier nimmt – nicht neu. In Gaza leben wir seit 17 Jahren unter der israelischen Blockade. Nicht erst seit dem aktuellen Krieg werden Journalisten daran gehindert, frei über die Handlungen des israelischen Militärs zu berichten. Was nun allerdings offensichtlicher und unbestreitbar wird, ist das gezielte Vorgehen des israelischen Militärs. Es wurden Journalisten in ihren Häusern mitsamt ihrer ganzen Familie ermordet. Manche von ihnen werden noch immer unter den Trümmern ihrer Häuser vermisst. Es wurden Journalisten während sie live berichtet haben oder in fahrenden Autos bombardiert. Ihre Kollegen, Freunde und Angehörige werden angegriffen. Aber selbst, wenn sie keine journalistische Arbeit ausüben, sind sie nicht sicher. Die Journalisten werden auf unterschiedliche Art und Weise getötet. Nur das Ergebnis bleibt immer gleich: die vorsätzliche Tötung eines Menschen.

Wie sah die Unterdrückung der palästinensischen Journalist*innen vor dem 7. Oktober 2023 aus?

Die Existenz palästinensischer Journalisten wurde schon immer auf unterschiedliche Weise bedroht, beispielsweise anhand von Ausreiseverboten. Nicht nur Journalisten, sondern auch Akademiker, Forscher, Ärzte und alle anderen, die sich aktiv in der palästinensischen Politik engagieren, sind davon konstant bedroht. Um in westliche Länder einreisen zu können, braucht es ein Visum. Um das zu bekommen, müssen Palästinenser nach Tel Aviv reisen, wo sich die meisten westlichen Botschaften befinden. Wenn Israel also die Erlaubnis entzieht Gaza zu verlassen, können Palästinenser aus Gaza auch keine Visa beantragen. Eine weitere potenzielle Bedrohung für Journalisten in Gaza ist der Verlust ihrer Arbeitsplätze bei internationalen Nachrichtenagenturen wie Reuters, AP oder anderen.

Wie sah die Medienlandschaft in Gaza vor dem Krieg aus?

Die offizielle palästinensische Nachrichtenagentur heißt WAFA. Ansonsten gibt es nicht allzu viele palästinensische Nachrichtenagenturen. Außer dieser gibt es in Gaza noch die Büros der internationalen Organisationen wie Reuters, AP oder Al Jazeera Arabic.

Die meisten palästinensischen Journalisten arbeiten entweder für palästinensische oder arabische Nachrichtenagenturen. Sehr wenige arbeiten für internationale Organisationen. Ein Grund dafür ist, dass unsere Medienprogramme an den Universitäten in Palästina und auch in Gaza nur auf Arabisch angeboten werden. Das bedeutet, dass die Absolventen sehr professionell und kompetent für die Berichterstattung in arabischen Medien sind, sich bei internationalen Nachrichtenagenturen aber vielleicht etwas schwerer tun, da ihre Englischkenntnisse teils nicht ausreichen.

Wissen Sie, wie die Journalist*innen in Gaza in der aktuellen Lage weiter ihre Arbeit verrichten?

Ich bin wirklich erstaunt darüber, wie die Journalisten in Gaza angesichts der Bombardierungen, der Angriffe, der beständigen Gefahr, ihr Leben oder ihre Familien zu verlieren, immer weiterarbeiten. Bereits die wirtschaftliche Situation und die Lebensbedingungen vor Ort bedeuten, dass viele Journalisten – wie alle anderen in Gaza – um Nahrung und Wasser kämpfen müssen. Das, was die palästinensischen Journalisten in Gaza während des Krieges leisten und geleistet haben, ist meiner Meinung nach nicht nur erstaunlich, sondern außergewöhnlich. Trotz aller beispiellosen Arbeitsbedingungen geben sie ihr Bestes, um professionell und ethisch zu arbeiten und objektiv über die Geschehnisse zu berichten. Vor allem, weil sie die einzige Quelle für die Menschen außerhalb von Gaza sind, um zu erfahren, was wirklich vor sich geht. Und während alldem sind sie ständig im Visier Israels – unter Missachtung aller Prinzipien der Menschenrechte.

Was ist von der Medieninfrastruktur in Gaza übriggeblieben?

Die Bombardierung des israelischen Militärs hat es nicht nur auf die zivile Infrastruktur abgesehen, sondern eben auch auf die Medieninfrastruktur – die Gebäude von Medieneinrichtungen und ‑organisationen, wie es auch The Gaza Project berichtet. Diese wurden bereits während der ersten Monate des Krieges zerstört. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie die Journalisten die Geduld und die Entschlossenheit aufbringen weiterzuarbeiten. Sie müssen ganz einfache Hilfsmittel benutzen, um weiter berichten zu können. Ich weiß, dass einige Journalisten erst mal weite Wege laufen müssen, um überhaupt eine Internetverbindung zu bekommen. Sie kämpfen darum, SIM-Karten mit begrenztem Datenvolumen benutzen zu können, um ihr Material verschicken zu können. Allein ihre Handys aufzuladen ist eine große Herausforderung, weil es in Gaza keinen Strom mehr gibt.

Einige Journalist*innen sind auch aus Gaza evakuiert worden, zum Beispiel der Al Jazeera-Journalist Wael al-Dahdouh. Trotzdem will dieser laut einem Interview mit dem SPIEGEL irgendwann wieder nach Gaza zurückkehren.

Gaza zu verlassen ist kein Ziel für Palästinenser. Aber es ist manchmal der einzige Weg, um Leben zu retten. Bei dieser Entscheidung spielen auch weitere Faktoren mit: die Arbeits- und Lebensbedingungen, die psychologischen Auswirkungen des Erlebten, vielleicht auch bereits der Verlust von geliebten Menschen und der Verlust von Eigentum. Es ist aber auch wichtig, palästinensische Stimmen außerhalb des Gazastreifens zu Gehör zu bringen. Die Zahl der Menschen, die außerhalb Palästinas über Palästina sprechen, ist momentan sehr gering – besonders in Deutschland.

Wie nehmen Sie die Balance von israelischen und palästinensischen Stimmen in der Berichterstattung wahr?

Meiner Meinung nach fehlen palästinensische Stimmen in der internationalen Berichterstattung, weil sich viele auf israelische Nachrichtenquellen konzentrieren. Ich sehe es dabei nicht als problematisch, wenn Medien mit dem israelischen Militär sprechen. Aber es ist ein Problem, wenn sie nurmit ihm sprechen. In den vergangenen Jahrzehnten konzentrierten sich die meisten nur auf israelische Ressourcen. Es sollten immer auch Informationen aus unparteiischen Quellen beachtet werden.

Das große Fehlen von palästinensischen Stimmen ist auch etwas, das ich in meiner Forschung beobachtet habe. Dafür gibt es viele Faktoren und Gründe. So sprechen wie gesagt nur einige palästinensische Journalisten Englisch, wodurch der Zugang zu ihnen für internationale Journalisten schwieriger ist. Weitere Faktoren sind die israelischen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Journalisten innerhalb und außerhalb des Gazastreifens. Schon vor dem Krieg war die Einreise für internationale Reporter stark begrenzt, und wer es schaffte, durfte oft nur wenige Tage bleiben.

Wie sieht die Medienstrategie des israelischen Militärs aus?

Die Medienstrategie des israelischen Militärs umfasst mehrere Elemente. Sie wendet sich auf Arabisch an das palästinensische Volk, vor allem über die Sozialen Medien. Sie verteilen Informationen wie zum Beispiel Evakuierungsbefehle hauptsächlich über Facebook, weil das die beliebteste Plattform in Gaza und in Palästina allgemein ist. Dabei werden auch viele Desinformationen verteilt, beispielsweise über die Tötung von Hamas-Führern oder über die Anzahl getöteter Zivilisten.

Die Informationen, die an das israelische Volk weitergegeben werden, übertreiben wiederum die Fähigkeiten der palästinensischen Gruppen und stellen den Gazastreifen als eine Quelle des Terrorismus dar. Diese Medienkampagne wirkt sich auf die Meinung des israelischen Volkes aus. Vor allem, was weitere Einsätze des israelischen Militärs in Gaza angeht.

Die Medienstrategie des israelischen Militärs hat auch ein internationales Ziel. Das israelische Militär verbreitet Falschinformationen über Palästina und die Kriegsoperationen in Gaza auf Englisch. Aus diesem Grund haben die westlichen Medien zwar viel Sympathie für die humanitäre Situation in Gaza, zeigen aber auch Verständnis für die militärischen Einsätze und die politische Haltung Israels.

Und auf der anderen Seite? Wie sieht die Medienstrategie der Hamas aus?

Man muss zwischen palästinensischen Journalisten, die für Nachrichtenagenturen arbeiten, und der Medienstrategie der Hamas unterscheiden. Israel macht diese Unterscheidung nicht, obwohl es sich um zwei unterschiedliche Akteure handelt. Auch das thematisiert The Gaza Project. Ich denke, dass die Kommunikation der Hamas in gewissem Maße sehr effektiv darin war, ihre Position gegenüber den Palästinensern und der Welt zu verteidigen. Vor dem Krieg hatten die Hamas das Al-Aqsa-Mediennetzwerk, das Fernsehen, Radio, Zeitungen und Kanäle auf den Sozialen Medien betrieben. Jetzt ist es anders, weil alle Medieneinrichtungen der Hamas von Israel ins Visier genommen und zum großen Teil zerstört wurden. Sie haben sich deswegen intensiv den Sozialen Medien zugewandt, obwohl es dort für sie viele Beschränkungen, beispielsweise durch den amerikanischen Betreiber Meta, gibt. Die Hamas hat früher Facebook, X oder WhatsApp benutzt, ist aber zu Beginn des gegenwärtigen Krieges mit ihren Medienaktivitäten, auch wegen der Rahmenbedingungen, zu Telegram migriert. Es gibt auch einige Kanäle und Materialien auf Englisch und Hebräisch, womit sie das internationale und israelische Volk erreichen wollen.

Die Hamas hat außerdem eine ‚offizielle‘ militärische Medienabteilung als Teil ihrer Izz al-Din Al-Qassam-Militärbrigaden geschaffen. Diese Abteilung ist unter der Bezeichnung „Militärische Medien“ oder „Al-Illam Al-Askari“ auf Arabisch bekannt. Ihr Hauptziel ist es, den palästinensischen Widerstand auf lokaler, regionaler und internationaler Ebene positiv darzustellen, die Darstellung des palästinensischen Widerstands gegen die israelische Besatzung zu bekräftigen und psychologische Kriegsführung zu betreiben, um die israelische Moral zu untergraben und gleichzeitig die palästinensischen Unterstützer zu stärken.

Welche Medienstrategie hat sich Ihrer Meinung nach als effektiver erwiesen?

Die Medienstrategie des israelischen Militärs ist effektiver. Bis zu einem gewissen Grad ist es offensichtlich, dass die israelische Medienstrategie von westlichen Regierungen oder im Allgemeinen von westlichen Medien unterstützt und angenommen wird. Das ist einer der Gründe für die einseitige Berichterstattung der westlichen Medien über den Gaza-Krieg.

Wie nehmen Sie die sonstige Berichterstattung in Deutschland über Gaza wahr?

Mir fällt in der deutschen Berichterstattung auf, dass der Krieg in Gaza ohne Kontext dargestellt wird. Meiner Meinung nach ist es falsch, die Ereignisse vom 7. Oktober als den Beginn des israelisch-palästinensischen Konflikts zu verstehen. So wird es allerdings in einigen deutschen Medien dargestellt, beispielsweise in der Deutschen Welle und der Zeitung Die Welt. Hier wird der historische Kontext der Ereignisse außer Acht gelassen, welcher verdeutlicht, dass der 7. Oktober ein Wendepunkt – und nicht der Ausgangspunkt – der israelisch-palästinensischen Spannungen war. Letztendlich kommt es im Journalismus immer darauf an, wie Informationen dargestellt werden.

Woran forschen Sie gerade?

Ich verfolge momentan verschiedene Forschungsansätze. Einer davon ist zur deutschen Medienberichterstattung über den Gaza-Krieg, bei welchem ich eine Diskursanalyse durchführe. Dabei interessiert mich auch die Auswirkung der Berichterstattung auf die deutsche Bevölkerung. Ein weiterer interessanter Aspekt, den ich genauer erforschen will, ist die Übereinstimmung der deutschen Medienberichterstattung über Gaza mit der deutschen Außenpolitik und inwieweit dieser Effekt medienübergreifend in Deutschland festgestellt werden kann. Mir ist in der deutschen Berichterstattung nämlich aufgefallen, dass die Außenpolitik nicht wirklich in Frage gestellt wird.

Hat sich die Berichterstattung über Gaza nach dem Ausbruch des Krieges im Oktober 2023 inzwischen wieder verändert?

Das Ausmaß der Berichterstattung wird immer geringer. In den letzten Monaten wurde leider nicht genug über die Kriegsoperationen des israelischen Militärs berichtet. Die Agenden der meisten Medienorganisationen, vor allem der westlichen, konzentrieren sich hauptsächlich auf die humanitäre Lage in Gaza. Vor allem wenn sie anfangen über den Waffenstillstand und ein mögliches Ende des Krieges zu berichten, werden die Verbrechen des israelischen Militärs ignoriert.

Wie wird es für Journalist*innen in Gaza weitergehen, wenn der Krieg hoffentlich irgendwann ganz vorbei ist?

Wenn der Krieg vorbei ist, können palästinensische Journalisten nicht nur frei, sondern endlich sicher arbeiten. Wenn die Grenzen wieder offen sind, gehe ich davon aus, dass viele internationale Journalisten nach Gaza einreisen können. Es hängt aber von den Vereinbarungen ab, die nach dem Krieg getroffen werden. Außerdem befinden sich die westlichen Botschaften weiterhin in Israel, weswegen die Menschen in Gaza weiterhin die Genehmigung von Israel brauchen, um zu den Botschaften zu reisen. So würde Israel die Kontrolle über die Bewegungsfreiheit der palästinensischen Journalisten und aller Palästinenser in Gaza behalten.

Wenn der Krieg vorbei ist, wollen Sie dann zurück nach Gaza und die Universität Gaza wiederaufbauen?

Ich hoffe, dass ich die Chance dazu bekomme.

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