„Ein klassischer Fall für die vierte Gewalt”
Was sich nach der stern-Enthüllung in der Gigafactory getan hat – und was nicht
Es gehört viel Mut dazu, sich in die Welt von Elon Musk einzuschleichen. Zwei Undercover-Journalistinnen haben es 2023 gewagt und erhebliche Missstände in der Tesla-Gigafactory in Grünheide aufgedeckt. Für ihre Recherche erhielt das Team von stern Investigativ/RTL unter der Leitung von Christian Esser, Manka Heise und Tina Kaiser im November 2024 den Otto Brenner Preis. Was hat sich seit der Veröffentlichung der Recherche im ersten deutschen Tesla-Werk getan?
Von Laura Niedermüller
Schwere Arbeitsunfälle, willkürliche Entlassungen und enormer Leistungsdruck: Über ein Jahr lang recherchierte ein Team von stern Investigativ/RTL zur Tesla-Gigafactory in Grünheide bei Berlin. Die beiden Journalistinnen Valeria Bajaña Bilbao und Kim Lucia Ruoff bewarben sich dort als Mitarbeiterinnen und schleusten sich auf diese Weise undercover in das Werk ein. Über mehrere Wochen hinweg waren sie vor Ort und erlebten die prekären Arbeitsbedingungen im Werk aus nächster Nähe. Das Ergebnis der Recherche: Schwere Verstöße gegen Umwelt- und Arbeitsschutzauflagen scheinen bei Tesla die Norm zu sein. Beschäftigte berichten von einem Arbeitsalltag, der kaum Spielraum für Erholung und Pausen lässt: „Die behandeln einen wie Roboter, nicht wie Menschen“, erzählte ein ehemaliger Bandarbeiter im Tesla-Werk dem stern. Er wollte anonym bleiben, weil Tesla seinen Angestellten mit hohen Strafzahlungen droht, sollten diese mit der Presse reden. Darüber hinaus liegt die Fabrik mitten in einem Trinkwasserschutzgebiet. Aus den Recherchen des stern geht hervor, dass sich Tesla nicht an die strengen Umweltauflagen hält. Stattdessen kam es bereits zu diversen Verstößen, unter anderem sollen Chemikalien wie Hydrauliköl, Lack, Farbe sowie mehrere hundert Liter Dieselkraftstoff aus einer illegal errichteten Tankstelle ins Grundwasser gelangt sein. Obwohl das Brandenburger Landesamt für Umwelt (LfU) von den Vorfällen wusste, wurde der zuständige Wasserverband WSE noch nicht einmal informiert. Im November 2022 übertrug das LfU die Kontrolle über das Grundwasser unter dem Fabrikgelände an Tesla selbst.
Die Recherchen des stern zeigen, dass die Verantwortlichen für das Tesla-Werk in Grünheide lieber auf hohen Umsatz statt auf Umweltschutz und faire Arbeitsbedingungen setzen. Doch seit der Veröffentlichung des stern-Artikels Außer Kontrolle am 28. September 2023 kam nun vor allem auf arbeitsrechtlicher Ebene einiges in Bewegung.
Proteste für bessere Arbeitsbedingungen
Missmut gab es unter den Mitarbeitenden im Tesla-Werk schon länger, doch mit der Veröffentlichung der stern-Recherche trauten sich viele aus der Deckung. Kurze Zeit später kam es zu ersten sichtbaren Reaktionen seitens der Belegschaft. Eine Woche nach der Veröffentlichung protestierten mehr als 1.000 Mitarbeitende vor dem Werk für bessere Arbeitsbedingungen. Die IG Metall hatte bis zu diesem Zeitpunkt nur begrenzten Einfluss im Werk, doch nun bekannten sich die Tesla-Beschäftigten erstmals öffentlich zur Gewerkschaft und unterstützten deren Forderungen nach gerechteren Arbeitsverhältnissen. Laut der IG Metall sind die Arbeitsbedingungen im Werk „vom Standard der Metall- und Elektroindustrie und erst recht dem der Automobilindustrie noch weit entfernt“. Im Vergleich zu Beschäftigten in anderen Werken mit Tarifvertrag sei die Arbeits- und Lebensqualität der Tesla-Mitarbeitenden deutlich niedriger. Gründe dafür seien zu wenig Personal und eine überdurchschnittlich hohe Anzahl an Krankenständen, die für eine enorme Arbeitsbelastung bei den Mitarbeitenden sorge. Außerdem bleibe den Beschäftigten in der Gigafactory kaum Zeit für kurze Verschnaufpausen im Arbeitsalltag, Trinken oder Toilettengänge.
Mehr Einfluss der IG Metall
Kurz nach dem Protest der über 1.000 Beschäftigten fand eine zweite Betriebsratswahl im Tesla-Werk statt. Die arbeitgebernahen Listen behielten im März 2024 zwar gemeinsam die Mehrheit, doch die IG Metall erzielte die meisten Stimmen. Seither bildet sie eine konstruktive Opposition im Betriebsrat. Durch eine Petition erreichte die Gewerkschaft auf diese Weise, dass ein bürokratisches Verfahren zur Krankmeldung, mit dem Tesla Hunderte Abmahnungen begründet hatte, stark vereinfacht wurde. Die arbeitgebernahen Betriebsräte können nun „mit ihrer Mehrheit nicht mehr einfach beschließen, was das Management verlangt, ohne dass es öffentlich wird“, betont Dirk Schulze, IG-Metall-Bezirksleiter für Berlin, Brandenburg und Sachsen. Das zeige sich vor allem bei Kündigungen, denen der neue Betriebsrat nicht mehr so oft zustimmt.
Aktuell setzt sich die Gewerkschaft besonders für die Entlastung der Tesla-Mitarbeitenden ein. „Der Krankenstand ist ein Ergebnis des hohen Arbeitsdrucks. Es kann nicht sein, dass mit jedem weiteren Kollegen, der dem nicht mehr standhält, noch mehr Arbeit auf die noch übrigen Schultern verteilt wird“, so die Gewerkschaft. Dabei gehe es vor allem um Wertschätzung und Respekt gegenüber den Mitarbeitenden: „Sie wollen frei ihre Meinung sagen und auch mal Kritik äußern können, ohne gleich in Ungnade zu fallen. Sie wollen spüren, dass ihre Leistung anerkannt wird und ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen jederzeit oberste Priorität haben.“
Lange sah der Arbeitsalltag bei Tesla nämlich ganz anders aus: Wer vom Arbeitsdruck krank wurde oder Kritik äußerte, riskierte, ohne Erklärung gekündigt zu werden. Auch von unangekündigten Besuchen der Tesla-Leitung bei kranken Werksmitarbeiter*innen wurde berichtet. Darüber werden Probleme bei der Anerkennung von Krankschreibungen bei Tesla genannt: In mehreren Fällen soll laut Gewerkschaft der Lohn von Krankgemeldeten von Tesla einbehalten worden sein. Die IG Metall sieht darin „unzulässige Einschüchterungen“ der Mitarbeitenden, die Fälle hätten zu einer Flut an Rechtsstreitigkeiten geführt. „Bei Tesla in Grünheide benötigen Mitglieder rund 21-mal so häufig den Rechtsschutz der Gewerkschaft wie im Durchschnitt der IG Metall“, so die Gewerkschaft. Tesla wies die Vorwürfe zurück.
Wie der stern berichtete, verwiesen Mitarbeitende, darunter Tayfur Karaboga, häufiger auf die Sicherheitsmängel im Werk. Karaboga arbeitete als Techniker bei Tesla in Grünheide und sein Vorgesetzter hatte ihn damit beauftragt, eine Steckdose zu versetzen. Als er seinen Schichtleiter darauf hinwies, er sei dazu nicht berechtigt, weil er ohne Schaltberechtigung den Strom nicht abschalten könne, habe dieser ihn angewiesen, den Strom eben angeschaltet zu lassen. Karaboga bekam einen Stromschlag mit 230 Volt. Auf Anweisung seines Chefs hin sollte er danach keinesfalls zum Arzt gehen. Sonst bekomme Tesla womöglich Ärger mit den Behörden. Karaboga gehorchte und verlor wenige Wochen nach dem Unfall trotzdem seinen Job. Er habe wohl „zu oft auf die Arbeitsschutzmängel hingewiesen“, sagt er heute. Nach Veröffentlichung der stern-Recherche meldete sich BMW bei Tayfur Karaboga und bot ihm einen Job an. Heute arbeitet er dort.
Politische Veränderungen
Trotz schwerer Verstöße gegen Arbeitsschutz- und Umweltauflagen im Tesla-Werk scheint die brandenburgische Landesregierung noch immer hinter Tesla zu stehen. Die Verantwortung für Entscheidungen bezüglich Werkserweiterungen und Umweltauflagen wurde nach Veröffentlichung der stern-Recherche zunehmend auf die kommunale Ebene verlagert. Der stern hatte von auffallend vielen Arbeitsunfällen im Werk berichtet. Stand Oktober 2023 bestätigte das Sozialministerium des Landes, dass es seit 2021 bereits zu sieben schweren Arbeitsunfällen in der Autofabrik in Grünheide gekommen sei. Das Ministerium stufte die Zahlen jedoch nicht als ungewöhnlich ein und verwies auf regelmäßige Kontrollen.
Die Fraktion DIE LINKE im Landtag Brandenburg hingegen kritisierte kurz nach Veröffentlichung der stern-Recherche die Verstöße gegen Arbeitsschutz- und Umweltauflagen im Tesla-Werk scharf. Fraktionschef Sebastian Walter sprach sich Ende September 2023 für einen Untersuchungsausschuss im Brandenburger Landtag aus: „Wir fordern vollständige Transparenz und Aufklärung über die Vorfälle, es ist Zeit für einen Untersuchungsausschuss. Es darf nicht sein, dass für Profite und Dividenden von Tesla Brandenburg seine Zukunft verkauft.“
Am 19. Oktober 2023 beschäftigte sich der Landtag Brandenburg schließlich in einer Aktuellen Stunde mit den Rahmenbedingungen für die Durchsetzung und Stärkung von Arbeits-, Umweltschutz- und Verbraucherschutzstandards bei Tesla in Grünheide. Linken-Politiker Walter warf dem Verbraucherschutzministerium mangelnde Aufklärungsbereitschaft vor. Wie wolle man andere Unternehmen überzeugen, sich an Arbeitsschutzstandards zu halten, wenn bei Tesla keine Konsequenzen folgten, hieß es von Seiten der Linken. Die Fraktion forderte die Landesregierung zu mehr Transparenz, regelmäßigen Informationskampagnen und mehr Arbeitsschutz auf. Doch die damals regierende Koalition aus SPD, CDU und Bündnis 90/Die Grünen wies die Forderungen zurück. Der SPD-Abgeordnete Björn Lüttmann entgegnete: „Arbeitsschutzgesetze gelten in Deutschland für alle Unternehmen gleich.“ Auch Clemens Rostock von den Grünen sagte: „Tesla ist wahrscheinlich das am besten kontrollierte Unternehmen in Brandenburg.“ Unangemeldete Inspektionen fänden regelmäßig statt, Umweltschutzverstöße müssten weiter untersucht werden. Bezüglich der Arbeitsschutzverstöße im Werk hieß es von der damaligen Sozialministerin Ursula Nonnemacher: „Jeder Arbeitsunfall, jede Beschwerde und jeder Verstoß gegen Arbeitsschutzvorschriften wird ernst genommen.“ Seit Beginn der Bauarbeiten werde Tesla intensiv kontrolliert, ein überdurchschnittliches Beschwerdeaufkommen liege nicht vor.
Ein langer Weg
Insgesamt geht es also nur mühsam voran im Tesla-Werk in Grünheide. Intern lassen sich kleine gewerkschaftliche Erfolge verzeichnen, doch der Weg hin zu fairen Arbeitsbedingungen scheint noch weit. Tesla zeigt an einer Aufarbeitung der Missstände nicht besonders viel Interesse. Zu den Vorwürfen hat sich Tesla bis heute nicht geäußert. Wie sich bereits in der stern-Recherche abzeichnete, wird auch auf politscher Ebene die Verantwortung lieber delegiert. Nichtsdestotrotz stehen die Vorgänge im Werk nun unter medialer Beobachtung. Die stern-Recherche sorgte nicht zuletzt dafür, andere Redaktionen auf das Thema zu stoßen und den Missständen vor Ort öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen. Im Nachgang berichteten Tagesschau, ZEIT, WELT und Co. regelmäßig kritisch über die Vorgänge in der Tesla-Gigafactory und beobachteten die Vorgänge vor Ort genau. Das war vor der Veröffentlichung anders.
Es bleibt abzuwarten, wie sich der öffentliche Druck auf Tesla sowie auf die politischen Verantwortlichen langfristig auswirkt. Das stern-Team werde jedenfalls weiterhin an den Vorgängen in der Fabrik dranbleiben: „Offenbar lässt die Politik Tesla und Elon Musk gewähren. Das ist ein klassischer Fall für die vierte Gewalt, die hinschauen, recherchieren und über Missstände sowie ausbleibendes staatliches Handeln berichten muss“, betont RTL-Teamleiter Christian Esser.